Anmerkungen zur Healthcare-Marktforschung

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Schaue ich auf die gegenwärtige Healthcare-Marktforschung in Deutschland, dann sehe ich eine Profession in Transformation. Es werden immer häufiger Befragungsformen praktiziert und von den Nachfragenden akzeptiert, die Repräsentativitätskriterien anders als bisher üblich auslegen. Neue Player tauchen auf mit interessanten Impulsen aus anderen Disziplinen. Es fühlt sich nach Identitätskrise an. Wie sagte unlängst ein Kunde: „Marktforschung kann jeder.“

Bestandsaufnahme

Meine mehr als zwanzigjährige Praxiserfahrung in der Healthcare-Marktforschung führt mich zu folgenden Thesen:

  1. Healthcar-Marktforschung orientiert sich an wissenschaftlichen Forschungskriterien, kann sie aber nur in den seltensten Fällen komplett einlösen.
    Beispiel:
    • Die Rekrutierbarkeit statistisch relevanter, großer Stichprobe unter Ärzten, Patienten, Apothekern und Pflegenden scheitert oft an der Erreichbarkeit und Teilnahmebereitschaft, sowie an den Kosten
    • Maßnahmen zur Erzielung von Reliabilität und Validität werden nach bestem Wissen und Gewissen vorgenommen, die Diskrepanzen in den Ergebnissen verschiedener Erhebungen zeigen aber, dass die Maßnahmen nur bedingt greifen, z.B. bei Awareness-, Marktanteils- oder Wiederkaufraten aus verschiedenen Panelwellen
  2. Die HealthCare-Marktforscher in Unternehmen und Instituten sind bestrebt, die am besten geeigneten Methoden bzw. deren erfahrensten und zuverlässigsten Anbieter zu identifizieren und einzusetzen
  3. Das Selbstverständnis und die berufliche Praxis der HealthCare-Marktforscher ist sehr volatil und abhängig von den gegebenen Rahmenbedingungen: Vom methodischen Gralshüter, über den pragmatischen Projektmanager, den kommunikationsstarken Netzwerker und Berater bis zum perfekten Daten-Organisator bzw. Chart und Dashboard-Lieferanten, ist jede Mischung vertreten.
  4. HealthCare-Unternehmen befinden sich in einem latenten Veränderungsprozess auf mehreren Ebenen:
    • dem stetig zunehmenden Wettbewerbsdruck in traditionellen (Pharma-/MedTech) Märkten,
    • dem Innovationsdruck durch die digitale Transformation in der Gesundheitsversorgung
    • den rasant steigenden Kosten der Medikamentenentwicklung
    • dem Kostendruck des Gesundheitssystems aufgrund der demographischen Entwicklung mit der damit einhergehenden NCD-Epidemie
    • der Veränderung in der Arzt-Patienten-Beziehung
  5. Die berufliche Praxis des HealthCare-Marktforschers wird von diesen übergreifenden Trends über kurz oder lang beeinflusst:
    • Die Anforderungen der Geschäftsführung und der Kollegen aus R&D, Market Access, Marketing, Sales etc. an „MaFo-Insights“ werden zunehmend neuartige Fragestellungen beinhalten.
    • Das gemeinsame Vordringen in neue Bereiche steht unter verhältnismäßig hohem Erfolgsdruck: Für die Entscheidungen über die Fortsetzung bzw. Anpassung neuer Produktentwicklungen bzw. deren Vermarktung müssen belastbare Insights immer schneller zur Verfügung stehen.
    • In dieser Konstellation wird die Prozessbegleitung im Innovationsprozess immer wichtiger, da alle mehr oder weniger Neuland betreten:
      • Welche aktive Rolle will und kann der betriebliche Marktforscher im Entwicklungsprozess von Innovationen einnehmen?
      • Was kann von Institutsseite in den Prozess eingebracht werden?
    • Andere „Disziplinen“ beanspruchen in diesem Innovationsprozess eine zunehmend größere Rolle: Unternehmensberater, Werbeagenturen, Innovations- und Kommunikationsexperten etc., die entweder die Daten der Marktforscher in ihre Beratung einbinden und „veredeln“ oder sogar selbst die Daten bzw. deren Insights generieren.
  6. Der Marktforscher hat in dieser Situation die Chance, sich aktiv selbst (neu) zu definieren:
    • Die ihm zur Verfügung stehende Vielfalt an Methoden und Daten bietet ihm die prädestinierte Möglichkeit, das große ganze Bild zu liefern.
    • In einem interdisziplinären Innovationsteam kann der Marktforscher dafür sorgen, dass die verschiedenen Anwender- bzw. Stakeholder-Perspektiven Gewicht bekommen.
    • Im Gegensatz zu den Vertretern der „anderen Disziplinen“ hat er den größten Spielraum, um eine wertneutrale Rolle im Innovationsprozess einzunehmen: sich ausschließlich dem Erfolg des Produktes hinter dem Prozess verpflichtet zu fühlen.
    • Der Erfolg hängt maßgeblich davon ab, dass es gelingt, den Sinn, Nutzen und Wert des Produktes – also die Value Proposition – aus der Anwender- und Anbieterperspektive in einem effektiven und effizienten Prozess zu identifizieren und zu realisieren.
    • Für die Schaffung dieser Value Proposition im Innovationsprozess kann sich der Marktforscher neu einbringen:
      • Agile UX-Research, um Insights zu den wahren Bedürfnissen hinter den Anwendererfahrungen zu schaffen, belastbar aber dem Pareto-Prinzip folgend
      • Begleitung und Input zur iterativen Umsetzung der Insights in Minimal Viable Products (MVP)
      • effektive und effiziente agile MVP-Testung.

Foto: Shutterstock

 

Chancen der Prozess-Kompetenz

Diese neue, Value basierte Sichtweise der HealthCare-MaFo bietet die Chance, im Innovationsprozess einen erheblichen Mehrwert für die MaFo, das Projektteam und letzten Endes das Unternehmen zu schaffen:

  1. Durch den agilen Insights-Prozess wird der Innovationsprozess schneller und lösungsorientierter vorangetrieben.
  2. Mit seiner wertneutralen Rolle und internen Schnittstellenfunktion kann der Marktforscher auch als Moderator der Teamsitzungen aktiv zum internen Innovationsprozess beitragen.
  3. Über die Teilnahme an verschiedenen internen Innovationsprojekten und die regelmäßige Wahrnehmung der Moderationsrolle hat der Marktforscher die Chance, für die MaFo-Abteilung quasi die Rolle eines internen Innovationscoachings aufzubauen, bei Bedarf mit passender externer Unterstützung.

Die Herausforderungen der Insights-Branche, denen sich die Healthcare-Marktforschung gleichermaßen gegenübersteht, können gemeistert werden. Healthcare-Marktforschung muss ihre Relevanz im unternehmerischen Wertschöpfungsprozess immer wieder proaktiv neu unter Beweis stellen. Veränderte Anforderungen auf Kundenseite, neue Player mit anderem Selbstverständnis und Fokus, vor allem aber immer schneller werdende Innovationszyklen durch den Wettbewerbsdruck erfordern ein Umdenken.

Healthcare-Marktforschung muss sich viel stärker prozessorientiert einbringen. Sich heute auf die Rolle des Hüters des vermeintlich heiligen Methoden-Grals zu beschränken bedeutet nicht mehr und nicht weniger. als morgen an Bedeutung zu verlieren. Das gilt vor allem auf Institutsseite, aber auch auf Kundenseite.

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